Was ist Gestalttherapie?
Grundlegend für den Gestaltansatz ist der Begriff der "Gestalt", der hier gleichbedeutend wie der Begriff "Ganzheit" verwendet wird. Er stammt aus der Gestaltpsychologie und bezieht sich auf die Art menschlichen Wahrnehmens und Erlebens. Danach findet menschliche Wahrnehmung in sinnvollen Gestalten, also Ganzheiten statt. Wir sind bestrebt solche Gestalten zu schließen. Gefühle, ein Klang, ein Bild, Bewegungen, Erinnerungen, eine Begegnung, kurz alles Erfahrbare kann eine Gestalt sein. Die Gestalt ist dabei immer mehr und etwas anderes als die Summe ihrer Teile.
Mit dem Begriff Gestalt verwoben ist das Figur-Hintergrund Konzept. Eine Gestalt ist gekennzeichnet durch eine Figur, die sich sozusagen in den Vordergrund der Wahrnehmung schiebt und dort mehr oder weniger prägnant erscheint. Die Figur ist etwas, was auffällt, erkennbar ist, wahrgenommen wird. Sie hebt sich ab von einem Hintergrund, mit dem sie zugleich untrennbar verbunden ist. Allein ergibt die Figur keinen Sinn. Sinn und Bedeutung entstehen aus der Beziehung von Figur und Hintergrund. Zum Beispiel gewinnt die Figur einer Träne ihren Sinn nur in Beziehung zu einem Hintergrund, der vielleicht Freude, Verletzungen, Trauer, Erinnerungen, Überzeugungen, Erfahrungen enthält.
Der Focus der Gestaltarbeit liegt auf dem Hier-und-Jetzt der Wahrnehmung und des Erlebens. Ziel ist es, das Gewahrsein, engl. die Awareness des
Klienten für sein gegenwärtiges Erleben zu stärken. Damit wird dieser schließlich befähigt, selbst die Arbeit fortzusetzen und die Therapie zu beenden.
Die Awareness richtet sich auf die sogenannten Kontaktprozesse. Wie nehme ich mich und meine Umwelt wahr, und wie halte ich mich von der Wahrnehmung bestimmter Dinge ab? Anders
ausgedrückt: Wie gehe ich in Kontakt mit mir und meiner Umwelt und wie unterbreche ich ihn?
Diese Kontaktunterbrechungen engen den Spielraum ein, sich schöpferisch kreativ an die Umwelt und diese an sich anzupassen und so seine Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Oft
folgen Unterbrechungen im Kontaktprozess alten erlernten Mustern. Sie halten uns dann ab von der Wahrnehmung bestimmter situativer Gegebenheiten, um uns vor Gefahren zu schützen, die so in
der Gegenwart vielleicht nicht mehr existieren. Diese Kontaktstörungen werden in der Gestalttherapie als ursprünglich konstruktive Lösungen begriffen und wertgeschätzt.
Die besondere Struktur der Kontaktprozesse, die das gegenwärtige Erleben formen, wird in der Therapie erforscht. Hierzu dient besonders das Experiment als Intervention. Im
Experiment wird etwas Neues versucht. Es fordert die Klientin heraus, eine neue Erfahrung zu machen, etwas bisher Unbekanntes von sich zu entdecken. Im Unvorhergesehenen Geschehen des
Experimentes kann eine Ent-Automatisierung von eingefahrenen Verhaltensmustern stattfinden. Neue Wahrnehmung, Veränderung und kreative Anpassung werden möglich und führen zu einer Intensivierung
der Kontaktprozesse.
In der kreativen Anpassung wird für den Menschen mehr Lebenszufriedenheit erreicht, durch eine angemessenere Befriedigung seiner aktuellen Bedürfnisse. Kreative Anpassung wird in
der Gestalttheorie von regider Anpassung unterschieden. Gemeint ist, dass wir als handelde, intentionale Wesen auch die Fähigkeit haben, die Umwelt aktiv an uns und unsere Bedürfnisse anpassen,
also kreativ zu sein und nicht nur gezwungen sind, uns passiv regide an eine unveränderliche, bestehende Umwelt anzupassen.
Gestalttherapie ermöglicht persönliches Wachstum für den Klienten.
Veränderungen geschehen nach dem Verständnis der Gestaltansatzes paradox. Die paradoxe Veränderungstheorie besagt, dass je mehr ich versuche, ein Anderer zu sein, desto mehr
bleibe ich Derselbe. Veränderung und Wachstum geschehen, wenn ich mich selbst hier und jetzt wahrnehme und annehme, wie ich bin und damit aufhöre ein anderer sein zu wollen.
Um wachsen zu können, braucht jeder Mensch Selbstunterstützung (self support). Jemand anderes sein zu wollen ist nicht selbstunterstützend für den Menschen, der ich hier und
jetzt bin. Wesentlich für die Selbstunterstützung ist die Identifikation mit meiner eigenen Seinsweise. Wenn ich mich selbst kenne und annehme wie ich bin, kann ich mich auch angemessen selbst
unterstützen. Ich kenne mein Tempo, meinen Rhythmus. Ich weiß, was ich brauche und was nicht.
In der gestalttherapeutischen Arbeit ist außerdem die dialogische Beziehung von zentraler Bedeutung, die in der dialogischen Philosophie Martin Bubers wurzelt. Ich und Du begegnen sich als Einheiten aus Fühlen, Denken und Handeln, aus Körper, Seele und Geist. Die Beziehung von Therapeut und Klient ist getragen von gegenseitigem Respekt für den je einzigartigen Menschen. Die offene respektvolle Begegnung an der Grenze ermöglicht einen Kontakt von Subjekt zu Subjekt, frei von Vereinnahmung und Gewalt. Der Mensch muss in der Begegnung nicht zum Ding, zum Objekt deformiert werden. In der Subjekt-Subjekt Beziehung ist Selbstwerdung und Heilung möglich.